Lavinia Greenlaw
Die Schriftstellerin Lavinia Greenlaw ist die 37. Samuel Fischer Gastprofessorin. Lavinia Greenlaw kam 1962 in London zur Welt. Im Alter von elf Jahren zog sie mit ihrer Familie in ein kleines Dorf nach Essex. Rückblickend beschreibt sie diese Zeit in ihrem literarischen Erinnerungsband The Importance of Music to Girls (2007): “I didn’t work: my language, accent. Codes and clothes were all wrong. People laughed at my name and mimicked the way I spoke. My voice was too posh, I had ink on my shirt, I was messy and skinny and dead white.” Zum Studium der Kunstgeschichte an der Kingston University kehrte Greenlaw 1980 nach London zurück, wo sie bis heute als Schriftstellerin, Künstlerin und Journalistin lebt und arbeitet.
Ihr erster Lyrikband, The Cost of Getting Lost in Space, erschien bereits 1991; 1993 folgte Night Photograph, der erste Band in der renommierten Lyrikreihe des britischen Verlags Faber & Faber, für den sie auf der Shortlist zum T.S. Eliot Preis, dem Forward Preis und Whitbread Award for Poetry (heute Costa Book Award) stand.
Im Mittelpunkt ihres dichterischen Werks steht die Frage nach unseren Wahrnehmungsmöglichkeiten und den Implikationen für die literarische Darstellung. Viele ihrer Gedichte beginnen mit konkreten, alltäglichen Begebenheiten und umkreisen davon ausgehend die Materialität der Dinge. Künstlerische und naturwissenschaftliche Verfahren begreift die Autorin dabei komplementär zueinander. Sie beleuchtet die Schnittstellen im gestalterischen Prozess und zeigt, etwa in ihrem Kurzfilm über Demenz, The Sea is an Edge and an Ending (2016), dass Kunst eine eigene Form von Wissen generieren kann.
Medial bewegt sich Greenlaw oft über die Grenzen des zwischen zwei Buchdeckel gedruckten Textes hinaus und das nicht nur in Rezensionen zu Musik und Kunst. Für die BBC hat sie Virginia Woolfs Roman Night and Day als Hörspiel adaptiert. Außerdem hat sie sich in ihren Radio-Dokumentationen mit der Wirkung von Licht und Sehkraft etwa im arktischen Mittsommer, bei der Sonnenwende und an besonders dunklen Orten in England beschäftigt. Mit Audio Obscura schuf Greenlaw 2011 ein immersives Klangkunstwerk – ein Stück zum Anhören auf Kopfhörern im Bahnhof oder an anderen öffentlichen Plätzen – für das sie den Ted Hughes Award für Lyrik erhielt und sie war die erste Artist-in-Residence des Londoner Science Museum.
Auf Deutsch liegen bislang die beiden Lyrikbände Minsk (2006) und Nachtaufnahmen (1998) sowie der Roman Die Vision der Mary George (2001) vor.
Greenlaws Seminar an der Freien Universität Berlin zum Thema On seeing and not seeing further wird die Analyse von Bildern und Texten aus unterschiedlichen Epochen und Genres verknüpfen. Dabei soll es um das menschliche Sehvermögen und um künstlerische sowie wissenschaftliche Darstellungsmöglichkeiten gehen. Diskutiert werden unter anderem frühe Fotografien, Kurzsichtigkeit, schlechtes Wetter, Virtual Reality sowie Texte von Locke, Mendelssohn, Henry James, Mary Shelley und anderen.